«Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

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nonthaburi
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«Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#1

Beitrag von nonthaburi »

Unsere Kinder besuchen hier in der Schweiz die 4. resp. 6 Klasse der normalen «Staatsschule».
Wir hadern aber etwas mit dem Schulsystem und sind je länger je mehr am Überlegen, unsere Kinder in einem anderen System (irgendeine Privatschule wie hier in Bern der «Spielraum21», die Montessori- oder die Rudolf Steiner Schule) weiterlernen zu lassen.
Es gäbe tonnenweise Beispiele was wir da tagtäglich erleben, dass uns fast Angst und Bange wird. Beide Kinder sind gute bis sehr gute Schüler, bei der Tochter steht ziemlich sicher nächstes Jahr der Übertritt in die Sekundarschule an (momentaner Notenschnitt etwa 5.3)
Letzte Woche erschien in der Basler Zeitung ein Interview mit Remo Largo und ich kann seine Ausführungen so nur bestätigen. Was wir momentan erleben ist wirklich traurig. Beim Sohn beispielsweise besteht die Klasse aus 29, teils sehr «aktiven», Kindern und vorne bei der Wandtafel steht eine Kiste mit Schallschutzkopfhörern bereit für Kinder die in Ruhe arbeiten wollen. Und betreut werden sowieso nur die schlechtesten, die besten haben es ja nicht nötig (und werden dementsprechend auch nicht gefördert). Und seit diesem Sommer dürfen wir den Kindern zu Hause auch nicht mehr bei den Hausarbeiten helfen weil sie sonst einen Vorteil hätten gegenüber Kindern bei denen die Eltern weniger gebildet sind (oder beispielsweise zu wenig Deutsch können) und nicht helfen können.

Mich würde eure Meinung interessieren. Ich denke, der Austausch hier ist wertvoll. Es hat spannende Persönlichkeiten im Forum, welche auch noch die Schule in Thailand kennen.
Ich poste hier einfach mal das Interview:


Rund ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler leidet unter dem Druck der Leistungsgesellschaft und entwickelt körperliche und psychische Symptome. Burn-outs gibt es mittlerweile bereits in der Primarschule. Remo Largo, der wohl bekannteste Kinderarzt der Schweiz, kämpft seit Jahrzehnten dafür, dass den Kindern nicht ihre gesamte Freiheit und Individualität geraubt wird. Seine Bücher (z. B. «Kinderjahre», «Schülerjahre») sind Standardwerke, in denen der Entwicklungsspezialist Verständnis für die enorm unterschiedliche Entwicklung jedes einzelnen Kindes wecken will.
Diesen Donnerstag hält Remo Largo in Basel einen öffentlichen Vortrag zum Thema Bildung*. Das Bildungswesen der Schweiz würde er am liebsten komplett umkrempeln. Und dies nicht nur zum Wohle der Kinder, sondern der gesamten Gesellschaft.

BaZ: Herr Largo. Noch in den 50er-Jahren sassen teilweise über 40 Schüler in einer Klasse. Der Lehrer erteilte rigiden Frontalunterricht. Parierten die Kinder nicht, erhielten sie Stockhiebe. Heute geht es in den Schweizer Klassenzimmern sehr viel kindgerechter zu und her. Trotzdem fordern Sie eine grundlegende Änderung des Bildungssystems. Was läuft Ihrer Meinung nach falsch?
Remo Largo: Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, und so ist auch die Schule enorm leistungsorientiert. Es braucht eine öffentliche Diskussion darüber, was für ein Bildungswesen wir wollen. Was für Erwachsene sollen aus den Schülern werden und was brauchen Kinder, um ihre individuellen Fähigkeiten zu entfalten und zu selbstbewussten Wesen heranzuwachsen? Im heutigen Unterricht sind die Kinder weitgehend fremdbestimmt. Es wird ihnen genau vorgelegt, was sie wann, wie und wie schnell zu tun haben. Das ist sehr nachteilig für ihr Selbstwertgefühl. Kinder sind nicht faul, sie wollen lernen – aber auf ihre Art, in ihrem Tempo. Darauf nehmen wir jedoch keine Rücksicht.

Die Befürworter des jetzigen Schulsystems würden Ihnen sicher widersprechen. Schliesslich steht ein Heer von Fachleuten bereit, das die Schwächen der Kinder auffangen soll.
Ich halte von dieser Art der Förderung nichts. Schwächen sind ein Tabu und sollen ausgebügelt werden, was aber nicht geht. Wir akzeptieren, dass Kinder unterschiedlich gross sind. Alle würden zustimmen, man kann die kleineren noch so lange füttern, sie werden nicht grösser, sondern nur dick. Auch eine Leseschwäche kann man nicht ausradieren. Man kann jedoch auf ein Kind so eingehen, dass es seine beschränkten Fähigkeiten optimal entfalten kann und lernt, damit umzugehen. Es gibt in der Schweiz 800 000 normal intelligente Erwachsene, die nicht richtig lesen können. Das ist nicht ein Versagen des Bildungswesens, sondern Ausdruck der Vielfalt unter uns Menschen. Wir haben kein Problem damit, wenn jemand unmusikalisch ist. Beim Lesen und Rechnen tun wir uns aber schwer, denn das sind Grundkompetenzen unserer Leistungsgesellschaft. Wenn wir diese Unterschiede akzeptieren würden, müssten wir auch akzeptieren, dass man keine Noten geben kann.

Weshalb?
In der ersten Klasse liegt der Entwicklungsstand der Kinder irgendwo zwischen 5,5 und 8,5 Jahren. Bei den Zwölfjährigen sind es sogar plus/minus drei Jahre. Wie wollen sie da gerechte Noten geben? Mit Noten bestrafen wir Kinder für ihre Minderbegabung, die Erwachsene immer noch haben, aber besser verstecken können.

Wie sollte man Ihrer Meinung nach vorgehen?
Ein Beispiel. Wenn man sieht, dass ein Viertklässler noch nicht so weit ist, gibt man ihm Aufgaben, die seinem Entwicklungsstand entsprechen, etwa aus der zweiten Klasse. Dann wird er Erfolg haben. Jedes Kind kommt mit bestimmten Begabungen zur Welt, die es nicht übersteigen kann. Überfordern wir die Kinder, wirken sich schlechte Noten nachteilig auf ihr Selbstwertgefühl aus, was zu einem massiven Problem werden. Ich kenne immer mehr junge Erwachsene, die schlicht zu Hause sitzen und nichts tun. Sie glauben nicht daran, dass sie eine Anstellung finden und den Ansprüchen der Wirtschaft genügen können. Etwa 30 Prozent der Studenten schliessen ihr Studium nie ab.

Sie sagen, die Kinder werden durch den fremdbestimmten, normierten Unterricht falsch sozialisiert.
Ja, man erzieht sie zu passiven, überangepassten Wesen. Das will eigentlich weder die Gesellschaft noch die Wirtschaft. Diese wünschen sich Menschen, die initiativ sind und Verantwortung übernehmen wollen. Sie beklagen sich, dass viele Angestellte einfach nur darauf warten, dass man ihnen sagt, was sie zu tun haben. Die Bereitschaft, sich eigenverantwortlich als Bürger für die Gesellschaft einzusetzen, hat ebenfalls gelitten. Um Verantwortung zu übernehmen, müssen die Schüler konkrete Erfahrungen machen. Da nützt auch der beste Staatsunterricht über Gewaltentrennung nichts.

Wie sollte guter Unterricht, wie sollte eine gute Schule aussehen?
Der Volksschulunterricht besteht vor allem aus Auswendiglernen und Prüfungen. Es ist eine Illusion, anzunehmen, wenn Schüler eine Prüfung bestehen, hätten sie den Stoff nachhaltig begriffen. Würde die Prüfung einige Wochen später wiederholt, würden die Noten weit schlechter ausfallen. Lernen geht nur über konkrete und selbstbestimmte Erfahrungen. Ein eindrückliches Beispiel habe ich als Primarschüler erlebt. Die Lehrerin liess uns in der dritten Klasse alle einen Stecken mitbringen, der einen Meter lang sein sollte. Dann sind wir raus und legten die Stecken immer wieder hintereinander, bis wir sie 1000-mal abgelegt hatten. Seither weiss ich genau, wie lang ein Kilometer ist. Wenn Schüler Zahlen nur auf dem Blatt jonglieren, kann keine innere Vorstellung des Zahlenraums entstehen.

Gibt es weitere wichtige Aspekte?
Die Kinder müssen sich in der Schule geborgen und angenommen fühlen, um richtig lernen zu können. Schlechte Noten erleben die Kinder als Ablehnung, der Lehrer mag mich nicht. Weiter muss man sich fragen, welches Wissen ein Erwachsener überhaupt braucht. Vieles, was heute unterrichtet wird, hat überhaupt keinen Nutzen. Wissen Sie noch, was eine Differenzialrechnung ist? Die Mehrheit der Bevölkerung bekommt schon beim Satz des Pythagoras einen roten Kopf. Es gibt eine Studie, die zeigt, dass sogar Gymi-Lehrer die Maturafragen anderer Fächer nicht mehr beantworten können.

Sie wünschen sich alternative, autonome Schulen.
Ja, Eltern, die ihren Kindern dieses Hamsterrad nicht mehr zumuten wollen, sollen Alternativen haben, auch die Lehrer, die anders unterrichten wollen. Alle Eltern, die mit der Volksschule zufrieden sind, schicken ihre Kinder weiter in die Volksschule. Ich wünsche mir autonome Schulen, die wie die Volksschule subventioniert werden, kein zusätzliches Geld annehmen dürfen und einen gewissen Prozentsatz von Schülern mit besonderen Bedürfnissen annehmen müssen. So vermeidet man elitäre Schulen. Mehrkosten würden für die Gesellschaft nicht entstehen.

Diese Kinder müssten aber trotzdem in der Leistungsgesellschaft bestehen.
Ich kenne viele alternative Schulen. Wenn es gute Schulen sind, was natürlich nicht immer der Fall ist, ist die existenzielle Zukunft dieser Kinder mindestens so gut abgesichert wie die anderer Kinder. Zusätzlich haben diese Schüler aber ein gutes Selbstwertgefühl und sind sozial kompetenter, was in der Dienstleistungsgesellschaft von grosser Bedeutung ist.

Standen die Kinder und das Schulsystem nicht immer schon unter Leistungsdruck?
Doch, aber er hat ab den 90er-Jahren enorm zugenommen. Immer mehr Kinder sind krank, leiden an Schlafstörungen, sind depressiv oder haben ein Burn-out. Sie stehen einfach still. Sie können und wollen nicht mehr und gehen nicht mehr in die Schule. Geschätzt sind ein Viertel aller Primarschüler angeschlagen und krank. Natürlich spielt das Familienleben eine wichtige Rolle, doch wenn es auch noch in der Schule nicht stimmt, wird es für die Kinder unerträglich.

Bereits Kindergartenkinder geraten laut Ihnen unter Druck.
Ja, selbst Kinder zwischen zwei und fünf Jahren. Förderstudios für Vorschulkinder schiessen wie Pilze aus dem Boden. Kitas richten sich darauf ein, die Kinder zu fördern. Die Kinder haben keine Freizeit mehr und sind völlig verplant. Und so geht das weiter. Viele Schüler nehmen in der 6. Primarstufe Nachhilfestunden, um den Sprung ins Gymnasium zu schaffen. In Zürich sind es je nach Quartier bis zu 80 Prozent. Die Eltern geben Tausende Franken dafür aus. Doch die Kinder werden dadurch nicht gescheiter, sie lernen nur, welche Art der Fragen sie wie beantworten müssen. Zu viele schaffen es, die dann im ersten Gymnasium-Jahr scheitern.

Sie sprechen ein Thema an, das auch in Basel aktuell ist. Das Erziehungsdepartement will die hohe Gymnasialquote von knapp 50 Prozent senken. Deshalb wurden die Aufnahmekriterien in die verschiedenen Sekundarzüge verschärft.
Es stimmt, dass viele Kinder nicht ins Gymnasium gehören, die heute dort sind. Ich gehe davon aus, dass eine Quote von 20 Prozent vernünftig ist. Die OSZE hat immer bemängelt, die Quote sei in der Schweiz zu tief. Nun, da sie das Debakel in immer mehr Ländern mit hohen Abiturquoten sieht, findet sie unsere tiefe Quote richtig.

ln dem Fall befürworten Sie die Massnahme des Erziehungsdepartements?
Ich befürchte, dass die Verschärfung zu einem noch absurderen Wettbewerb in der sechsten Primarklasse führen wird. Eltern, die es vermögen, schicken ihre Kinder in den Nachhilfeunterricht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Kind ins Gymnasium kommt, ist viermal höher als bei einem Kind aus einer tieferen sozialen Schicht, das oftmals intelligenter ist. Diese Massnahme des Erziehungsdepartements greift zu kurz. Zu einem solchen Entscheid gehört in einer Demokratie eine Diskussion. Das hätte das Erziehungsdepartement nicht einfach so bestimmen dürfen. Viele Eltern werden das sicher nicht einfach so akzeptieren.

Als Hauptgrund für die hohe Gymnasialquote hat das Erziehungsdepartement die Eltern ausgemacht. Sie drängen die Kinder um jeden Preis ins Gymnasium und setzen ihre Kinder unter Druck.
Man kann den Eltern nicht einfach den Schwarzen Peter zuschieben. Das ist hilflos. Das Problem sind nicht nur die Eltern oder das Bildungswesen, es ist die ganze Gesellschaft. Alle machen mit. Der wichtigster Faktor in der Wirtschaft ist der Wettbewerb. Das bekommen auch die Eltern zu spüren. Sie haben unterschwellige Existenzängste und wollen deshalb, dass ihre Kinder in der Schule erfolgreich sind, damit sie in der Leistungsgesellschaft bestehen. Deshalb brauchen wir eine allgemeine Diskussion.

Können die Eltern denn gar nichts tun?
Die Eltern sollten sich an der Einzigartigkeit ihres Kindes orientieren, sie sollten sein Bemühen wertschätzen und nicht die absolute Leistung. Und sie sollten akzeptieren, wenn ihr Kind nicht fürs Gymnasium gemacht ist – auch wenn sie beide Akademiker sind. 40 Prozent der Kinder aus solchen Familien werden nicht mehr Akademiker. Die Eltern sollten, wenn sie ihr Kind nicht unglücklich machen wollen, einen «Abstieg» akzeptieren, wenn dieses nicht über die notwendigen Begabungen verfügt.

Der zweite Bildungsweg ist für Sie eine genauso gute, wenn nicht bessere Lösung?
Eine Studie von Rudolf Strahm hat die Erfolgsaussichten beim direkten Weg über Gymnasium/Universität oder mit dem zweiten Bildungsweg untersucht. Die Frage lautete: Wo landen die Kinder als Erwachsene, wenn sie in die Wirtschaft integriert sind? Das Resultat ist erhellend. Jene, die den zweiten Bildungsweg eingeschlagen haben, werden von der Wirtschaft als kompetenter eingeschätzt, werden bevorzugt und verdienen auch mehr.

Weshalb?
Viele Kinder werden durchs Gymnasium und Studium gepusht. Sie lassen alles passiv über sich ergehen. Auf dem zweiten Bildungsweg ist das anders. Dieser wurde von den Jugendlichen bewusst gewählt. Sie mussten dafür Eigeninitiative, Interesse und Eigenverantwortung aufbringen. Zudem haben sie in einer Lehre konkrete Erfahrungen gesammelt, die man im Gymnasium nicht macht.

Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft aus, wenn wir weitermachen wie bisher?
Wir müssen gar nicht in die Zukunft schauen. Wir haben ja schon jetzt ein monströses Problem, das sich einfach noch verstärken wird. Nicht nur in der Schule, auch in der Wirtschaft. Die Arbeit ist immer mehr sinnentleert. Immer mehr Menschen arbeiten nur noch für den Lebensunterhalt. Doch der Mensch hat ein Bedürfnis nach Befriedigung und Wertschätzung. Er will seine Begabungen bei der Arbeit einsetzen, Leistung erbringen. Das ist in der Wirtschaft immer weniger möglich. Wenn wir beispielsweise ein Grundeinkommen hätten, hätten wir viel mehr Freiheiten, das zu tun, was wir wollen und auch brauchen.

Das bedingungslose Grundeinkommen haben wir jedoch vor Kurzem an der Urne verworfen.
Das kommt wieder. Es ist unvermeidlich, da es bald gar nicht mehr genug Arbeit für alle geben wird. Digitalisierung und Automatisierung vernichten Stellen. In den nächsten 10 bis 20 Jahren werden 50 Prozent aller Dienstleistungsstellen verloren gehen. Der Lebensunterhalt kann nicht mehr nur durch Arbeit allein finanziert werden. Wir werden das Grundeinkommen schneller einführen, als wir uns das derzeit vorstellen können.

Dann hätte der Mensch endlich die Freiheit, die Sie ihm schon von Kindesbeinen an gewünscht hätten? Sie sehen also nicht schwarz wie so viele andere?
Ich bin tatsächlich ziemlich optimistisch. Das ist eine gute Entwicklung. Doch es wird schmerzhaft werden, umzudenken. Der materielle Wohlstand wird abnehmen. Die Freiheit aber, ein Leben zu führen, das dem einzelnen Menschen entspricht, wird zunehmen.

https://bazonline.ch/das-beste-aus-der- ... y/11596183
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Michaleo
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Re: «Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#2

Beitrag von Michaleo »

nonthaburi hat geschrieben:
Fr 2. Nov 2018, 08:28
Wir hadern aber etwas mit dem Schulsystem und sind je länger je mehr am Überlegen, unsere Kinder in einem anderen System (irgendeine Privatschule wie hier in Bern der «Spielraum21», die Montessori- oder die Rudolf Steiner Schule) weiterlernen zu lassen.

Ich kann das sehr gut nachvollziehen, auch mir blieb das Schuldilemma bei mir, aber auch bei meinen vier Kindern aus zwei Ehen nicht erspart. In dem Zusammenhang machte ich Erfahrungen mit der holländischen "Nutsschool", eine nichtkonfessionelle öffentliche Schule wo ich selber war, dem öffentlichen Gymnasium und später der Privatschule Feusi, von wo aus ich die eidg. anerkannte Matura machte. Die Feusischule war um Welten besser für mich als das öffentliche Gymnasium.

Meine ersten Kinder dann besuchten die antroposophische Schlösslischule in Ins, für zwei war das aus unterschiedlichen Gründen gut, hingegen das Dritte wollte ab der 5. Klasse in die Oeffentliche wechseln, wo sie dann auch problemlos die Matura machte. Sie fand dieses öffentliche Gymnasium gut und angenehm und ich hatte auch einen guten Eindruck.

Meine vierte, die unterdessen 11- jährige Tochter aus zweiter Ehe, geht in Thailand in der Gemeinde wo sie lebt in eine Privatklasse der öffentlichen Schule mit 1500 Schülern. Ihr ist wohl und ihre Lehrerinnen (2 aus den Phillipinen) scheinen mir motiviert, aber auswerten kann man diese Schulzeit natürlich erst nach ihrem Abschluss.

Meine Erfahrung ist, dass die Schulwahl sehr individuell geprüft werden muss. Es gibt sehr gute öffentliche Schulen, aber je nach Wohnquartier kann das Niveau natürlich schon tief sein. Allerdingt ist auch eine Privatshule nicht zwingend die bessere Lösung. Muss das Kind mit dem Auto in eine entfernte Privatschule gebracht werden empfinde ich das als grossen nachteil, weil ihm damit die Erlebnisse auf dem Schulweg entgehen. Auf der Strasse lernt man schliesslich auch.
Freundliche Grüsse L-)
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thedi
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Re: «Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#3

Beitrag von thedi »

Eigentlich bin ich mit Remo Largo in den meisten Punkten einig. Die Ursache all der Missstände ist meiner Meinung nach die Leistungsgesellschaft selbst ist. Das ständige Streben nach mehr, nach Wohlstand, Ansehen, Karriere, Wettbewerb. Sowohl die Schule und Eltern wie auch die Wirtschaft ist in diesem Gedankengebäude gefangen. In dem System kann man nie ein ausruhen, sondern muss bis zum letzten Atemzug im Hamsterrad immer schneller und schneller rennen.


Schlussendlich geht es um die grosse Frage: Was ist eigentlich der Sinn des ganzen?

Meine Meinung dazu hat sich gewandelt. Heute würde ich antworten: "Geniessen - hier und heute". Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem was in der westlichen Leistungsgesellschaft die Norm ist: da macht man immer etwas um später dann einmal...

Aus dieser Überlegung halte ich auch das Schulsystem für eher nebensächlich. Ob die Kinder nun Differenzialrechnungen lösen, oder ihren Namen tanzen lernen, ist eigentlich egal. Man soll das nicht überbewerten. Kinder entwickeln sich von selbst, indem sie mit ihresgleichen spielen, konkurrieren, streiten und Freundschaften schliessen. Von all dem, was ich in der Schule lernte, konnte ich vielleicht 5% im Leben anwenden.

Im Dschungel meines Leben waren für mich Selbständigkeit, Eigenverantwortung und selbständiges Denken wesentlich für den Erfolg. Um das zu vermitteln braucht es keine Pädagogen.

---

Unsere Tochter besuchte hier in Thailand Privatschulen. 6 Jahre Mathayom an der Khon Kaen Vithed Süksa Bilingual School - der meiner Meinung nach besten - und wohl auch eine der teuersten - Schule hier im der Region Khon Kaen. Dann besuchte sie 5 Jahre die Universität Rangsit - wieder eine Uni mit einem Namen.

Trotz all dieser Schulen ist sie ganz gut heraus gekommen und kann nun auf eigenen Beinen stehen.


Mit freundlichen Grüssen

Thedi
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nonthaburi
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Re: «Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#4

Beitrag von nonthaburi »

Danke für das Teilen eurer Erfahrungen. Wie erwartet sehr spannend.
Bei uns in der Schule habe ich gemischte Gefühle. Die Lehrer scheinen mir gewillt aber irgendwie scheint das nicht zu klappen mit all den Vorgaben die sie haben.

Noch vor ein paar Jahren hätte ich gesagt, dass meine Kinder studieren sollen, am besten noch in der ETH oder HSG. Unterdessen möchte ich einfach, dass sie glücklich werden bei dem was sie machen. Ich mag auch nicht gross Druck ausüben, will gleichzeitig aber auch nicht, dass ihre Talente und Stärken nicht genutzt werden. Und da sehe ich eben starke Einschränkungen in den öffentlichen Schulen. Ich bin überzeugt, dass auch der nicht universitäre Weg (mit Berufslehre inkl. Matura, später dann vielleicht Fachhochschule) sehr gut ist und ausser bei spezifischen Berufen (Pfarrer, Anwalt, Doktor) dem schulischen Weg in nichts nachsteht.
Aber klar, die Kinder aus dem gewohnten Umfeld wegnehmen ist auch problematisch. Sie sind zwar sehr aufgeschlossen und würden auch dort schnell Kontakt finden (zudem sind beide in Mannschaftssportarten unterwegs wo sie auch viele Kontakte haben). Ich persönlich halte nicht so viel von den Erfahrungen auf dem Schulweg. Der ist bei uns relativ kurz (5 Minuten mit Fahrrad) aber da ist nicht viel los. Sie führen einfach die Gespräche weiter welche sie auf dem Schulhof begonnen haben.
Im Moment läuft es irgendwie darauf aus, dass aus den 29 Kindern nicht unterschiedliche Individuen werden, sondern fast so 29 normierte Kinder, alle auf dem gleichen Level und wie aus einer Maschine.
Ich setze noch gewisse Hoffnungen in die Sekundarschule. Aber ich muss einfach am Ball bleiben und schauen wie sich das entwickelt.

Bezüglich Druck ausüben habe ich vor kurzem ein sehr interessantes Buch gelesen (resp. als Hörbuch angehört): "Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte" (engl. Originaltitel: Battle Hymn of the Tiger Mother). Sehr interessante Ansätze und Vergleiche zwischen chinesischer und westlicher Erziehungsmethoden. Hier der Wikipedia-Link dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Mutter_des_Erfolgs
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Bruninho
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Re: «Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#5

Beitrag von Bruninho »

Ich denke, Vergleiche mit der Schule der 50er-Jahre hinken. Damals sprachen eigentlich alle Kinder die gleiche Sprache, hatten den gleichen kulturellen Hintergrund.

Heute sind die Wertvorstellungen der Kinder aller Rassen und Kulturen völlig verschieden und verändern die Vermittlung von Wissen völlig.

Selbstverständlich vermittelt die (Volks-)Schule die Prioritäten der jeweiligen Gesellschaft. Sie hat gar nicht die Möglichkeit, andere Werte zu vermitteln. Diese werden von der Politik, dem Parlament vorgegeben.

Privatschulen haben diese Möglichkeiten im Rahmen der Freiheit und Offenheit einer Gesellschaft.

Privatschulen, machen wir uns aber da nichts vor, können nur von einer Minderheit in Anspruch genommen werden. Die Mehrheit der Bevölkerung ist finanziell nicht in der Lage, eine solche für ihren Nachwuchs zu ermöglichen.

Für mich hatte bei der "Erziehung" meiner Tochter das Leistungsdenken keine primäre Bedeutung. Mein Ziel war es, dass sie lernte, sich in diesem, unserem Gesellschaftssystem, durchzusetzen. Durch breites Allgemeinwissen die Zusammenhänge des Lebens, der Gesellschaft, zu erkennen um sich diese zu Nutzen machen zu können. Ohne dabei, egoistisch, das Wohl der Anderen aus den Augen zu verlieren.

Das ist mir, als Alleinerziehendem, gelungen. Das macht mich zufrieden!

Rezepte, wie die Schule von heute umgestaltet werden könnte, habe ich keine.
Die Materie ist viel zu komplex für einfache Lösungen!

:wai:
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tom
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Re: «Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#6

Beitrag von tom »

Bruninho hat geschrieben:Rezepte, wie die Schule von heute umgestaltet werden könnte, habe ich keine.
Die Materie ist viel zu komplex für einfache Lösungen!
Wie wahr! Sehe ich genau so.

Zwei Beispiele:

- Ein Freund von mir ist Leiter einer Primarschule im Raum Thun. Da wir uns regelmässig an YB-Spielen treffen kommt man auch immer wieder ins Gespräch. Zum Thema "Ausländerkinder" und den Schwierigkeiten die es gibt/geben soll, hat er durchaus auch andere Dinge erlebt was man ansonsten so liest. Er sagt zum Beispiel dass Ausländerkinder die aus schwierigen Verhältnissen kommen sehr oft viel einsatzfreudiger und motivierter sind als Wohlstandskinder aus Schweizer Familien.

- Ein 13-jähriges Mädchen aus Mazedonien, wohnt mit ihrer Familie im selben Haus wie wir. Die Eltern sind wohl ein typisches Bild von Zugezogenen: er arbeitet auf dem Bau, spricht redlich hochdeutsch, sie trägt immer Kopftuch, macht den Haushalt und hat Mühe sich auf deutsch auszudrücken. Amra, das 13-jährige Mädchen spricht hingegen wie ihr jüngerer Bruder tiefsten berndeutschen Dialekt. Wir sprechen oft ein paar Worte zusammen wenn wir uns treffen und sie ist richtig stolz auf ihre schulischen Leistungen. Genau so sind es ihre Eltern. Kürzlich zeigte sie mir ihr Zeugnis: Durchschnittsnote 5,5 (an unsere deutschen Freunde: in der Schweiz ist die 1 die tiefste und die 6 die höchste Note). Und in der Fremdsprache französisch: eine glatte 6! Zuhause reden alle mazedonisch miteinander, das Mädchen trägt unter der Woche ganz normale Kleider wie Jeans, T-Shirt etc, jedoch (meist sonntags) auch mal lange Kleider und Kopftuch (wenn ein entsprechender Anlass dazu vorhanden ist). Den Uebertritt in die Sekundarstufe hat das Mädchen natürlich problemlos geschafft. Auch zeigt sie absolut keine Anstalten überfordert zu sein. Aber - und hier müssen sich vielleicht auch Schweizer Eltern hinterfragen - man sieht sie nie mit einem Handy rumspielen oder wie andere in ihrem Alter irgendwo rumsitzen und auf dem Handy Musik hören oder Videos anschauen.

Man sieht, es ist wie Bruninho geschrieben hat viel zu komplex für einfache Lösungen. Es kommt wohl sowohl auf die jeweilige Schule darauf an und was sie aus einer Situation macht und auch auf die Kinder und deren Familienverhältnissen.

Ein interessantes Thema!

Gruss Tom

Werner
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Re: «Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#7

Beitrag von Werner »

nonthaburi hat geschrieben:
Fr 2. Nov 2018, 08:28
.... Und seit diesem Sommer dürfen wir den Kindern zu Hause auch nicht mehr bei den Hausarbeiten helfen weil sie sonst einen Vorteil hätten gegenüber Kindern bei denen die Eltern weniger gebildet sind (oder beispielsweise zu wenig Deutsch können) und nicht helfen können. ......

Mich würde eure Meinung interessieren.
Das ist doch wohl ein Witz! Was? Ihr dürft eure Kinder nichts mehr beibringen, bei den Hausarbeiten? Für das Abfragen der tatsächlichen Leistung gibt es ja immer noch Tests und Klassenarbeiten und das Gespür des Lehrers der schon bemerkt wenn ein Kind nicht weiß was in den eigenen Hausarbeiten steht.

Also NEIN. Hausarbeiten, Kontrolle und das Feedback der Eltern dazu gehört doch einfach zum Lernen dazu. Und Vokabeln lernen oder Englisch wäre ohne meine Mutter noch viel viel viel schlechter gelaufen weil der Lehrer, wie im übrigen die meisten, nicht weiß oder aus Arroganz ignoriert, dass es unterschiedliche Arten der Wissensaufnahme gibt und sein System nicht bei allen Kindern funktioniert.

Ihr müsst eure Kinder also bewusst dumm halten, sozusagen verblöden, damit sie nicht zu intensiv lernen und auf den Stand eines stammelnden Fremdsprachlichen Analphabeten runter brechen um die Chancengleichheit herzustellen?
:ironie:
Nun gut, da kann ich helfen, hier in Düsseldorf lernt man ja die neuesten Dinge fürs Überleben, von den Startups. Hier bei mir lernt ihr alles was euer Kind zum Überleben braucht, in der Zukunft, nur einen Satz: "Ey Joh Altär, was geht? Hascht Kohläh ey? Isch ficke deine Mudder wänn du nischt geld gibscht." Damit kommt das Kind bis ins hohe Alter durch. Zumindest solange Mudder noch lebt sonst wirkt diese Drohung ja nicht mehr.
:ironie:
Wir durchgeknallt sind denn die Schweizer?

W.

Werner
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Re: «Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#8

Beitrag von Werner »

Steiner würde ich nicht bevorzugen. Die späteren Erwachsenen sind nach meiner Kenntnis nicht belastungsfähig und kommen im Leben nur eingeschränkt klar. Aber das ist Wissen von Dritten, die Meinung zum Steiner System hier in Deutschland. Ich war nie auf einer Steiner Schule und müsste bei meinen früheren Arbeitnehmern und Kollegen erst einmal nachforschen.

W.
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ZH-thai-fun
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Re: «Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#9

Beitrag von ZH-thai-fun »

thedi hat geschrieben:
Fr 2. Nov 2018, 10:10
In dem System kann man nie ein ausruhen, sondern muss bis zum letzten Atemzug im Hamsterrad immer schneller und schneller rennen. ...
So ist es! Zur Zeit noch wenigstens.

Aber ich bin sicher der Mensch hat die Gabe, sich von diesem Wertesystem des mehr haben's, mehr können's und mehr sein's. Hin in ein System des mehr Leben's, mehr Hingeben's, und mehr entmaterialisierten Seins zu bewegen.

Anzeichen sind schon da. Populismus sind letzte Aufschrei. Und es ist ja schon 5 nach 12, die Roboter, Technik und Wissen sind auf dem Weg. Der Mensch ist ein Stehaufmännchen, auch wenn es auf dem Mars oder sonst wo wieder aufstehen muss ... unsere kommenden Menschens-Kinder schaffen das, mit dem schon angehäuften Wissen der Menschheit!? ;-)
Nur wer Negatives wahr'nimmt, kann auch Positive genießen.
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Michaleo
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Re: «Die Kinder werden zu überangepassten Wesen»

#10

Beitrag von Michaleo »

Unterdessen möchte ich einfach, dass sie glücklich werden bei dem was sie machen.
Das ist das wichtigste!

Lieber ein glücklicher Strassenfeger als ein neurotischer Professor, hiess es in den 70- Jahren von Seiten der Bewegung „Die Schülerschule“, und ich erlebe das an meinem Sohn, der als Koch so gerne kocht, dass er das auch noch in seiner Freizeit macht. Überigens bildet er jeweils am liebsten junge Leute „ mit Startschwierigkeiten“, z.Z. eine 35-jährige alleinerziehende Tamilin, aus, und freut sich über deren Erfolge herzlich.

Auch ich bin als Sozialarbeiter nicht den akademischen, sondern den praktizierenden Weg gegangen, und habe das nie bereut.
Ich bin überzeugt, dass auch der nicht universitäre Weg (mit Berufslehre inkl. Matura, später dann vielleicht Fachhochschule) sehr gut ist und ausser bei spezifischen Berufen (Pfarrer, Anwalt, Doktor) dem schulischen Weg in nichts nachsteht.
Das ist so. Es gibt heutzutage sehr anspruchsvolle Lehren, die an den Lernenden gleich hohe Ansprüche stellen wie ein Studium. Zudem gibt es, so hiess es in den Nachrichten, zu viele Maturanden und zu wenig Praktiker.
Freundliche Grüsse L-)
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