
PHNOM PENH/BANGKOK. In den letzten Minuten seines Lebens versuchte der unbekannte Mann offenbar mit letzter Kraft, über den holprigen Gehweg am Rand der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh in Sicherheit zu kriechen. Jetzt hängt der Oberkörper des Textilarbeiters von einer Stufe herunter. Um den Kopf des Toten hat das aus einer Schusswunde laufende Blut eine Lache gebildet. Hunderte von herumliegenden Steinbrocken leisten dem Leichnam auf der menschenleeren Straße Gesellschaft.
Der Mann hatte gemeinsam mit Zehntausenden anderen Textilarbeitern des Landes gestreikt. Am Freitag setzte eine Kugel seiner Hoffnung auf eine Erhöhung seines monatlichen Mindestlohnes von umgerechnet 58 auf 116 Euro ein Ende. Mehrere Hundertschaften von Militär und Polizei waren mit brutaler Gewalt gegen Textilarbeiter und Demonstranten vorgegangen. Seit Monaten dauern die Proteste an – nun sind sie eskaliert. Drei Menschen starben am Freitagmorgen im Kugelhagel, Dutzende wurden verletzt. Mindestens zehn Menschen, darunter buddhistische Mönche, wurden festgenommen, weil der Langmut des nicht gerade zart besaiteten Hun Sen ein Ende fand. Er regiert das Land seit 28 Jahren.
Den 30 000 gewerkschaftlich organisierten Textilarbeitern war es gelungen, 300 000 Arbeiter für den Ausstand zu mobilisieren. Nun liegt nicht nur die Industrie des Landes mit seinen 500 000 Beschäftigten lahm. Der Ausstand bedroht auch die Zukunft des kambodschanischen Wirtschaftszweigs, dessen Exporte in Höhe von fünf Milliarden Dollar pro Jahr 80 Prozent der Deviseneinnahmen Kambodschas ausmachen. Überwiegend von chinesischen Firmen betriebene Textilfabriken fertigen in dem südostasiatischen Land zu Niedriglöhnen Kleidung und Schuhe für Marken wie Adidas, Puma, Nike oder H & M, die in westlichen Verkaufsregalen zu Preisen verkauft werden, die um Vielfaches über den Monatslöhnen der kambodschanischen Arbeiter liegen.
"Bei Berücksichtigung von Inflation verdient ein kambodschanischer Textilarbeiter heute etwa den gleichen Lohn wie im Jahr 2001", sagt Joel Preston, dessen Hilfsorganisation Cambodia Legal Education Center sich vorwiegend um Belange von Textilarbeitern kümmert. Die westlichen Modekonzerne zogen häufig von China nach Kambodscha um, weil im Reich der Mitte inzwischen drei Mal höhere Löhne gezahlt werden. Dennoch weigerten sich Kambodschas Fabrikbesitzer in der letzten Dezemberwoche, einer Erhöhung des Mindestlohns von 58 auf 70 Euro zuzustimmen. Die Arbeiter reagierten so empört, dass sie danach eine von der Regierung angeordnete Erhöhung auf 72 Euro nicht akzeptierten.
Wie sehr die Protest- und Streikwelle den Herrscher in Phnom Penh sorgt, machte vor ein paar Tagen sein persönlicher Berater Ros Chantrabot deutlich: "Ich warne vor der Politik des Selbstmords." Offenbar fürchtet Hun Sen um sein Ziel, auch im Alter von mehr als 70 Jahren Kambodscha noch zu regieren.
Denn die sechs Gewerkschaften, die eine führende Rolle bei dem Streik spielen, gelten als Verbündete der Oppositionspartei Cambodian National Rescue Party (CNRP) unter Führung von Sam Rainsy. Er startete Mitte Dezember nach mehrwöchiger Pause erneut Proteste gegen die Regierung. Ihr Vorwurf: Hun Sen habe bei der Wahl im Juli vergangenen Jahres der Opposition über zwei Millionen Stimmen gestohlen und sie um den Wahlsieg betrogen. Rainsy war im Sommer mit einer Mischung aus Ausländerfeindlichkeit gegenüber Kambodschanern vietnamesischen Ursprungs und auf einer Welle der Wechselstimmung nahe an sein Ziel gekommen, Hun Sen abzulösen. In dieser Woche brach Rainsy im Namen der Opposition Verhandlungen mit der Regierung ab. Er sagte, man könne nicht mit "Barbaren" reden, die mit Gewalt gegen die streikenden Textilarbeiter vorgehen. "Sie gehen zu weit", warnt Hun Sens Berater Chantrabot, "wenn sie mit ihren Protesten weitermachen, könnte das die Nation teilen." Hun Sen kann die Aufregung nicht verstehen. "Ich soll zurücktreten? Was soll ich den falsch gemacht haben?"
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